Ein Akt der Nächstenliebe

zwei Hände halten einander
Bild: a_sto / photocase.de

Die Zahlen regen zum Nachdenken an: Laut der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) warten in Deutschland rund 11.000 Menschen auf ein Spenderorgan. Rund 1.000 von ihnen sterben jedes Jahr, ohne dass sie ein Organ erhalten. Im Jahr 2015 gab es nur noch 877 Spender – 2007 waren es noch 1313.

Für einige ist die Organspende ein selbstverständlicher Akt christlicher Nächstenliebe, andere können sich nicht vorstellen, dem zuzustimmen. Privatdozent Dr. Martin Beiderlinden, Mediziner im Marienhospital Osnabrück, wird in seinem Berufsalltag häufig mit dem Thema Organspende konfrontiert. Drei Fragen an den Experten:

Warum ist es wichtig, sich über Organspende zu informieren?

Dr. Martin Beiderlinden: Die Organspende nach dem Tod ist einzigartig unter den vielen Arten der Spende insofern, als der Spender das Gefühl Linderung oder Leben gespendet zu haben, nicht erleben darf. Er handelt also aus tiefster Überzeugung und völlig uneigennützig für andere notleidende Menschen. Der Empfänger dagegen ist seinem Spender ein Leben lang unendlich dankbar. Gerade bei herztransplantierten Patienten wird über die enge Verbundenheit mit ihren unbekannten Spendern berichtet.
Nur wenige Menschen haben für sich entschieden, auf diese Art anderen Menschen helfen zu wollen. Dem Großteil der Patienten wird durch eine katastrophale Situation, zum Beispiel durch einen Unfall, die Entscheidungsfreiheit genommen. Sie sind dann so krank, dass sie nicht mehr nach ihrer Überzeugung gefragt werden und für sich entscheiden können. Die Angehörigen von potentiellen Organspendern sind von dem Ereignis überfordert. Es ist ihnen nahezu unmöglich, eine Entscheidung zur Organspende für ihren Angehörigen zu treffen, denn sie fürchten, verantwortlich für den Tod ihres geliebten Menschen zu sein.

Darum ist es wichtig, sich über Organspende zu informieren: Damit jeder einzelne die Entscheidung im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte trifft und nicht diese schwere Aufgabe seinen mit der Situation überforderten Angehörigen überlässt. Für uns als Mediziner ist es wichtig, über Organspende zu informieren, damit sich in der Bevölkerung nicht die Meinung festsetzt, dass diese besondere Art der Spende durch unangemessenes Verhalten einiger Weniger den uneigennützigen Wert dieser Spende zunichte macht, dass diese besondere Art der Nächstenliebe vergebens ist. Es ist wichtig, darüber zu informieren, damit die Lebensfreude, die durch ein transplantiertes Organ im kranken Empfänger wiederkehrt, ein Gesicht bekommt.

Wie läuft eine Organspende ab?

Dr. Martin Beiderlinden: Ausganspunkt ist immer eine schwere Hirnschädigung, die dann zu einem hohen Hirndruck führt, der die Blutversorgung des gesamten Hirns unterbindet. Nach einem strikten Protokoll geht es dann darum, festzustellen, ob der Hirntod eingetreten ist. Dazu müssen zwei unabhängige Fachärzte im Abstand von mindestens 12 Stunden bis maximal 72 Stunden eine genau definierte und standardisierte Untersuchung durchführen. In solchen Situationen nehmen wir Kontakt mit der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) auf. Parallel dazu werden die Angehörigen sehr eng betreut. Wir informieren sie frühzeitig über das Ausmaß und die Schwere der Erkrankung mit den möglichen Folgen. Sehr dezidiert versucht unser Team, das aus Ärzten, Pflegenden und unserer Seelsorgerin besteht, den Angehörigen alle Maßnahmen und Schritte verständlich zu erklären – eine sehr emotionale Aufgabe.

Angehörige

Wenn das erste Hirntodprotokoll keine Anzeichen einer Hirnfunktion aufweist, suchen wir das Gespräch mit den Angehörigen. Sehr vorsichtig und einfühlsam versuchen wir zu erfahren, wie er zum Tod und dem Leben danach und auch zur Organspende gestanden hat, sofern er keinen Organspendeausweis bei sich trug. Wir weisen die Angehörigen darauf hin, dass erst der zweite Teil des Hirntodprotokolls den Hirntod feststellt.

Für die Angehörigen ist das eine unerträgliche und unverständliche Situation, denn ihr Angehöriger liegt genauso da wie die Tage vorher. Er wird künstlich beatmet, sein Herz schlägt, er schwitzt, hat Ausscheidung und jetzt soll er tot sein? Für alle Beteiligten ist dieser Moment einer der emotionalsten im Berufsalltag einer Intensivstation.

Haben die Angehörigen glaubhaft versichert, dass der mutmaßliche Wille ihres Angehörigen eine Zustimmung zur Organspende wäre und dass sie einverstanden sind, wird die DSO über die Organspendebereitschaft informiert. Die Angehörigen haben das Recht, entweder alle oder nur einzelne Organe zur Transplantation frei zu geben. Nun wird nach eindringlicher und standardisierter Untersuchung der Patient bei Euro-Transplant in Leiden (Niederlanden) gemeldet, der zentralen Organvermittlungsstelle Europas. Sobald die Untersuchungsbefunde vorliegen, werden die in Frage kommenden Empfänger-Patienten nach strikten und transparenten Vorgaben bestimmt und deren Transplantationszentren informiert.

Infos in Kürze

Ein Organspendeausweis ist kostenlos in vielen Arztpraxen, Apotheken und Krankenhäusern erhältlich. Er kann auch bei jeder Krankenkasse und bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bestellt werden. Unter www.organspende-info.de kann man ihn auch direkt herunterladen. Da es sich nicht um ein amtliches Dokument handelt, ist es sogar möglich, den Wunsch zur Organspende formlos auf einem Blatt Papier festzuhalten. Ab 16 Jahren kann die Bereitschaft zur Organspende erklärt werden. Bereits mit 14 kann man einer Organspende nach dem Tod widersprechen – auch dies lässt sich übrigens auf dem Ausweis vermerken.

Die DSO koordiniert die Organentnahme im Marienhospital und die Transplantationsteams. Dabei kommen die Transplantationschirurgen zu uns ins Haus und entnehmen die in Frage kommenden Organe in unserem Operationssaal. Eine Organentnahme ist wie eine große Operation. Selbstverständlich wird mit dem Organspender ebenso pietätvoll umgegangen wie mit jedem anderen Patienten auch. Am Ende der Operation wird der Körper wieder verschlossen und entweder auf die Intensivstation zurück gebracht oder im Raum der Stille aufgebahrt. Dieses Vorgehen sprechen wir sehr detailliert mit den Angehörigen ab und versuchen, deren Wünsche umzusetzen. Die Organe werden dann in die Transplantationszentren geflogen und den Patienten eingesetzt, für die die sie bestimmt sind.

Organspendeausweis

Wie stehen Sie als Christ zum Thema Organspende?

Dr. Martin Beiderlinden: Der Umgang mit dem Thema Organspende stellt eine der größten menschlichen und christlichen Herausforderungen in der Medizin dar und geht an die Grenzen der psychischen Belastbarkeit aller im Behandlungsteam tätigen Mitarbeiter. In keiner anderen medizinischen Situation liegen Leben und Tod, Leid und Freude soweit auseinander und nirgends sind sie doch so eng miteinander verknüpft. Als Christ versuche ich, das Leid der Angehörigen zu lindern, um dann, nach dem Tod des Patienten, mir die Frage zu stellen, wie ich anderes Leben mit meinem Engagement erhalten kann. Diese Brücke zwischen Leben und Tod vermag die Organspende zu schlagen: der Ausweglosigkeit und Irrationalität des tragischen Todes einen Sinn zu geben. Mein geliebter Mann, mein Kind ist tot, aber er kann anderen Menschen Leben schenken. Dieser Gedanke treibt mich als Christ an und ist für viele Angehörige ein beruhigender trostspendender Gedanke.